Falsche Fragestellung
Die Beobachtung ist seit jeher ein wichtiges Instrument kriminalistischen Arbeitens. Sherlock Holmes beobachtete bekanntermaßen so scharfsinnig, dass er daraus immer die richtigen Schlüsse ziehen konnte, was übrigens nur deshalb stets perfekt war, weil es der Autor Sir Arthur Conan Doyle so wollte. Als Ermittler ist man aber auch auf die Beobachtungen anderer Personen angewiesen, denn nur diese waren zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort. Die Frage „Was haben Sie gesehen?“ ist aber eigentlich schon falsch gestellt, denn sie reduziert den Beobachter auf die visuelle Wahrnehmung. Diese gilt zwar als wichtigster Sinn (ein Drittel des Gehirns ist mit Sehen beschäftigt), aber es gibt natürlich weitere Wahrnehmungskanäle, die im Einzelfall eine besondere, kriminalistische Bedeutung erlangen können. Der Mensch nimmt nämlich mit all seinen sechs Sinnen wahr. Er kann hören (auditive Wahrnehmung), riechen (olfaktorische Wahrnehmung), schmecken (gustatorische Wahrnehmung), fühlen (haptische oder taktile Wahrnehmung), und er hat ein Muskelempfinden, einen Gleichgewichtssinn (somästhetische Wahrnehmung, gliedert sich in kinästhetisch und vestibular). Die Frage an einen potentiellen Zeugen sollte also korrekterweise lauten: „Was haben Sie wahrgenommen?“
Change Blindness und Inattentional Blindness
Leider sind unsere Sinnesorgane fehleranfällig. Gerade die visuelle Wahrnehmung ist ausgesprochen leicht beeinfluss- oder manipulierbar. Zwei Phänomene sollen dies veranschaulichen: Change Blindness und Inattentional Blindness.
Die Change Blindness oder Wechselblindheit führt dazu, dass Veränderungen nicht sofort wahrgenommen oder erkannt werden. Der Blick auf die Szenerie wird kurz (es reichen übrigens schon Sekundenbruchteile) unterbrochen, und obwohl plötzlich z.B. ein Gegenstand fehlt oder eine Person durch eine andere ersetzt worden ist, wird das nicht erkannt. Mit diesem Phänomen spielen auch die bekannten Suchbilder, d.h. zwei Bilder oder Fotos, die nebeneinander zu sehen sind, sollen dahingehend miteinander verglichen werden, wie viele Fehler oder Änderungen das zweite gegenüber dem ersten Bild aufweist. Die kurze Sichtunterbrechung geschieht durch den Blickwechsel von einen auf das andere Bild.
Inattentional Blindness
Die Inattentional Blindness oder Unaufmerksamkeitsblindheit kann man auch mit Ablenkung beschreiben. In einer etwas komplexeren Szenerie kann nicht alles gleichermaßen und gleich gut wahrgenommen werden. Das Gehirn muss entscheiden, was ihm wichtig und was ihm weniger wichtig erscheint. Wenn der Blick dann auch noch konkret auf einen bestimmten Ausschnitt gelenkt wird, dann übersieht man sogar Augenfälliges. So sollten Probanden die Ballwechsel von Basketballspielern zählen, dabei aber nicht auf die Spieler der gegnerischen Mannschaft achten. Aufgrund dieser Ablenkung übersahen sie einen Gorilla (Mensch im Gorillakostüm), der durch das Bild lief. Dieses von den Harvardpsychologen Christopher Chabris und Daniel Simons im Jahre 1999 durchgeführte Experiment gilt inzwischen als Klassiker der Wahrnehmungspsychologie.
Buchempfehlung
Wer mehr dazu erfahren möchte, dem sei folgendes Buch empfohlen: Der unsichtbare Gorilla: Wie unser Gehirn sich täuschen lässt, Verlag Piper, 2011 (ISBN-13: 978-3492053518).